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Eine Kritik des konträren Ansatzes

Humphrey Neill gilt als Vordenker des sog. konträren Ansatzes, er veröffentlichte vor einem halben Jahrhundert das Buch "The art of contrary thinking". Interessant ist, daß sich mittlerweile fast jeder Prognostiker implizit oder explizit als Contrarian sieht, daher gehört es mittlerweile zum Standardstatement in Marktanalysen, -kommentaren und -prognosen aller Art, daß man mit der vertretenen Meinung "so ziemlich alleine dasteht"

Diese Behauptungen basieren jedoch nur selten auf einer repräsentativen und unvoreingenommenen Analyse, sondern häufig auf willkürlich herausgegriffenen Einzelargumenten, von denen man jederzeit Dutzende pro und contra finden kann, und manchmal sogar ganz ohne Argumente. In diesem Artikel möchte ich die gegenwärtige Praxis des konträren Denkens einer kritischen Würdigung unterziehen.

Erklärung der Popularität des Ansatzes

Der konträre Ansatz ist nur einer von vielen möglichen Methoden mit einer Verläßlichkeit und Genauigkeit, die meiner Beobachtung nach gar nicht mal so überzeugend ist. Warum aber ist er dann so populär? Der Grund ist meines Erachtens, daß er in einer ich-zentrierten und narzißtischen Gesellschaft Nahrung für das so überaus wichtige Ego darstellt. Das Ego will immer einzigartig sein und recht behalten ("Ich habe als einziger recht und alle anderen nicht") und verkraftet es oft schlecht, bloß ein blökendes Schaf in der Herde der blökenden Schafe zu sein. Eine ähnlich irrationale Individuum-Fixierung kann man auch in der Astrologie beobachten, wo in der derzeitigen Praxis wohl 90-95% der Horoskope für Personen berechnet werden, obwohl bei vielen Problemstellungen eine andere Vorgehensweise schneller, einfacher, zuverlässiger und besser wäre (z.B. Stundenhoroskope)

Grenzen des Ansatzes

Wie überall sonst gilt auch hier, daß ein Ansatz nur dann aussagekräftig ist, wenn man dessen Grenzen kennt und das tun leider wenige. Die Nichtbeachtung der Grenzen ist ohnehin einer der Kardinalfehler bei allen Analysemethoden und unterscheidet Profis von Nichtprofis.

Der konträre Ansatz kann oft ungefähr die Richtung vorgeben, eine Genauigkeit in Bezug auf Zeit und Preis ist jedoch die Ausnahme bzw. nur mit wenigen Indikatoren möglich. Neill selbst wollte übrigens das konträre Denken primär als einen Denkansatz bzw. ein analytisches Tool verstanden wissen und nicht als eine Prognosemethode im engeren Sinne. Auch wenn ich dem nicht zustimme, sollte man sich bewußt machen, daß eine unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren ist, daß es eine eindeutige Massenstimmung gibt. Wenn eine solche nicht zweifelsfrei feststellbar ist, ist die Aussagekraft sehr begrenzt.

Einzelindikatoren wie z.B. die Sentimentzahlen der American Association of Individual Investors (AAII) oder Investor's Intelligence (II) können immer nur einen kleinen Teil des Sentiments erfassen. Einzelargumente pro und contra findet man immer, aber entscheidend ist die ausgewogene ganzheitliche Beurteilung. Das Ideal der Ganzheitlichkeit ist, daß das Ganze mehr ist als die Summe der Teile ("1+1=3"). Tatsächlich aber zeigen Studien über die Informationsverarbeitung beim Menschen, daß nicht einmal die bloße Addition von Informationen gut gelingt ("1+1=1.5"), geschweige denn eine gelungene Synthese. Meiner Meinung nach gibt es für dieses Problem nur 2 Lösungen: entweder die völlige Mechanisierung/ Modellierung oder die Bewußtseinsklärung (z.B. durch Meditation).

Das größte immanente Problem (und von Neill schon ansatzweise beschrieben in seinem Buch) ist, daß das konträre Denken mit der Hauptrichtung Sentimentanalyse vor allem am Beginn und Ende eines Trends gut funktioniert, weniger in der Mitte (definitionsgemäß ist jedoch die Wahrscheinlichkeit der Beibehaltung eines Trends höher als die Änderung). Woher aber soll man wissen, ob ein Trend gerade dreht oder nicht? (logischerZirkelschluß).

Von der gebotenen Vorsicht ist heutzutage selten etwas zu bemerken, da heißt es ganz einfach, daß die Masse immer falsch liegt, eine solche unqualifizierte Aussage kann man ohnehin so nicht stehen lassen, es gibt für Prognosen einfach keine 100%ige Sicherheiten, richtiger wäre die Aussage, daß die Masse tendenziell  (bestenfalls meistens) falsch liegt.

Beispiel: im Februar und März 2003 waren die Börsenpublikationen stark dominiert von der Meinung, daß ab dem Beginn des Irak-Krieges eine massive Rallye starten würde. Mein geschätzter Kollege Carl Swenlin sagte deswegen in einer Radioshow (vor dem Kriegsausbruch), daß, wenn es tatsächlich zu einer Rallye kommen würde, es garantiert die bestangekündigte seiner jahrzehntelangen Börsenerfahrung sei. Und was passierte? Genau das...

Es geht um das Herausfinden der dominanten Meinung und dann um die Interpretation im Lichte der v.a. preislichen Entwicklung (!). Wenn ein Markt 20-30% gestiegen ist binnen kurzer Zeit und ein neues Allzeithoch markiert hat, dann ist recht bullisches Sentiment angemessen und nicht (!!!) als verläßlicher konträrer Indikator zu gebrauchen - auch wenn das immer wieder "übersehen" wird.

Beispiel: Ende Mai/ Anfang Juni 2003 war ein nach gut 2 Monaten Rallye extrem bullisches Sentiment für die Aktienmärkte zu beobachten, welches im Gegensatz zu ähnlichen Situationen in den 2-3 Jahren vorher jedoch nicht zu einem Abdrehen führte, weil in diesem Fall der Markt inmitten der zyklischen Hausse 2002-2004/5 war.

Ich glaube außerdem, daß die Bedeutung des konträren Ansatzes eher abnimmt, insbesondere des Sentiments, weil immer weniger Handelsentscheidungen von (emotionalen) Menschen getroffen werden. z.B. steigt der NYSE-Programmhandel in immer höhere Höhen, tw. schon über 70% (testgehend neutral sein, was äußerst schwer ist. Sicherheitshalber sollte man die anekdotischen Indikatoren daher nur als interessante Beimischung verwenden mit den "unbestechlichen" statistischen Indikatoren als Hauptpfeiler der Analyse. Dazu ist auch der Artikel über die Notwendigkeit der Statistik relevant.

Die meisten aktiven Teilnehmer lesen jede Woche so viele Marktmeinungen, daß es ein leichtes ist zu sagen, Analyst Soundso ist bullisch, also wird der Markt fallen (oder umgekehrt). Man ist in Teufels Küche, wenn man sich zuerst eine Meinung bildet und dann einen willkürlichen Beleg für die behauptete Antithese zur Masse sucht. Wenn man Einzelpersonen als Kontraindikatoren nimmt, dann nur wenn tatsächlich eine negative Historie vorliegt, weil sonst jemand ungerechtfertigterweise und vorverurteilend als "Kontra" hingestellt wird. Es gibt tatsächlich Einzelpersonen mit einer "exzellenten Versagenshistorie", die man dann als Kontraindikatoren heranziehen kann.

Oft wird pauschal angenommen, daß bullische Sentimentindikatoren bearisch seien und umgekehrt, aber dies ist keineswegs der Fall; es gibt genügend Sentimentindikatoren, die bestätigenden Charakter haben. Andere wiederum laufen dem Preis typischerweise um Wochen oder Monate voraus oder nach, auch dies wird viel zu wenig berücksichtigt. Oft gilt auch (besonders kurzfristig), daß der Preis dem Sentiment folgt (!).

Tragikomisch geht es manchmal in Foren zu, wo sich z.B. 3 Poster zu einem Thema einig sind, dann kommt bald darauf ein weiterer Poster hinzu mit der Aussage, daß bei solcher Einigkeit wohl das Gegenteil eintreffen müssen...

Und eines ist auch klar: hie und da muß ausnahmslos jeder Börsianer als Kontraindikator herhalten.

Vorbilder

Wo also kann man gute konträre Analyse erlernen? Für mich sind die besten Contrarians, die ihre Grenzen kennen und nicht der Versuchung anheimfallen, die Dinge einfacher zu sehen als die sind, eindeutig Mark Hulbert und Bernie Schaeffer, die Lektüre ihrer Artikel hebt sich wohltuend ab von der oft praktizierten Hüftschuß-Analyse ab. Ich verwende den konträren Ansatz als mittelstarke Prognosemethode, der allerdings nicht mit den "Zugpferden" Astrologie und ZyklenEin Zyklus ist ein immer wiederkehrendes Phänomen (in den Märkten). mithalten kann, dazu fehlt im großen und ganzen die Genauigkeit.